Einleitende Worte von Dr. Joachim Nicolay
Liebe Leserin, lieber Leser,
in dieser Ausgabe der Mitgliederzeitschrift* gedenken wir des Todes von Sabine Mehne. Sie hat das Netzwerk-Nahtoderfahrung zusammen mit Günter Ewald und Alois Serwaty gegründet und viele
Jahre mitgestaltet. In einem Beitrag soll sie selbst zu Wort kommen. Ich habe einen Text ausgesucht, den ich besonders gelungen und schön finde. Darin beschreibt sie ihre Vorstellung vom Sterben
unter einem ungewöhnlichen Gesichtspunkt. In dem Text kommt auch noch einmal ihre große, sprachliche Begabung zum Ausdruck, mit der sie viele Menschen gefesselt hat.
*NTE-Report März 2023
Das „Heilige in uns“ - Sabine Mehne über ihr Verständnis der Seele
„In unserem Sprachgebrauch hat sich der Begriff Seele etabliert. Wir verwenden ihn ganz selbstverständlich, obwohl es keinen wissenschaftlichen Nachweis gibt und keiner je die Seele gesehen hat. Trotzdem sprechen wir Menschen und vor allem Mediziner von seelischen Krankheiten, derer sich die Psychologie und Psychotherapie annehmen. Aber was wird eigentlich behandelt? Die Seele ist meines Erachtens etwas wie ein Nahtoderlebnis, etwas, das sich begrifflich nicht vollständig erfassen lässt, aber trotzdem existent ist und wirkt.
Deshalb möchte ich dieses Unsichtbare, dieses Etwas in uns anders beschreiben, um zu verdeutlichen, was sich im Sterben aus meiner Sicht vollzieht und im Leben eine tiefere Bedeutung erlangen könnte. Ich nenne es „dasHeilige in uns“. Bei diesem Begriff spüre ich Ehrfurcht und Demut, Gefühle, die mich liebevoll, leise und weich machen. Empfindungen, die mich öffnen und mich in Beziehung zu etwas Größerem setzen. Das Heilige in uns lässt mich ahnen, dass es ein Heiliges außerhalb von uns geben muss etwas Großes, Herrliches und Unerschöpfliches und wir letztlich immer in dieser Verbundenheit sind, nur eben leider nicht bewusst.
Bei einem Nahtoderlebnis wird dieses Heilige in uns reaktiviert, indem es für Sekunden den Körper verlässt und sich mit dem verbindet, was allgemein Heiliges genannt wird, also dem gesamten Kosmos, Universum, einem endlosen Bewusstsein, in meiner Kultur wird von Gott gesprochen, womöglich dem heiligen Geist im ursprünglichen Wortsinn. Beim Zurückkehren in den Körper bleibt dieses Heilige in uns aktiv, im besten Falle bewusst. Im Sterben löst es sich stetig weiter ab von der Körperlichkeit, ja es wird scheinbar angezogen von der Gesamtheit des Heiligen, bis es im letzten Atemzug ganz frei ist und zu seiner Urquelle zurückkehren darf.
Es wird immer wieder berichtet, und ich habe es selbst mehrfach erlebt, dass die Körperhülle den Glanz des Lichtes, das Heilige, sich beim Toten zeigt. Das Gesicht, insbesondere die Augen, werden oft als Fenster zur Seele bezeichnet. In meinem Modell wären sie die Fenster zum Heiligen, und beim Toten ist es das Gesicht, welches entspannt, licht und friedlich auf uns wirkt. Natürlich sehen nicht alle Toten so friedlich aus, weil es eben unterschiedliche Todesursachen und Todeskämpfe gibt. ....
Um das Ende des irdischen Lebens entsprechend meiner Idee besser nachvollziehen zu können, ist es sinnvoll, sich den Beginn des Lebens unter diesem Blickwinkel anzusehen ... Eine Geburt ist mit Sicherheit für ein Baby ein schmerzlicher und mühsamer Prozess. Bei der Geburt, mit dem ersten Atemzug, womöglich schon bei der Vereinigung von Ei- und Samenzelle wird das Heilige in uns aktiviert, aber es ist noch klein oder genauer gesagt, es hat noch eine starke Bindung zum großen Ganzen, zum Heiligen außerhalb. Vor dem ersten Atemzug schwimmt das Baby nicht nur im Fruchtwasser, sondern zugleich im göttlichen Licht. Es ist noch nicht von dieser Welt, auch wenn es durch die Mutter mit ihr verbunden ist. Am Gesicht des Neugeborenen lässt sich das Heilige in uns erfassen, es wird im Volksmund als das Engelslächeln bezeichnet. Ein Neugeborenes im Arm halten, sich dem Bann dieses Lächelns anzuvertrauen - es scheint, als ob die Zeit stehen bliebe - man
senkt sofort die Stimme und verharrt in andächtigem Staunen und könnte stundenlang mit dem Kind im Arm sitzen und schauen. Mir jedenfalls ist es bei den Geburten meiner Kinder so ergangen und diese kostbare Verwandlung hat mehrere Wochen angehalten ...
Das Heilige in uns wächst mit dem Heranwachsen des Menschen mit, es sucht im Laufe des Lebens nach Entsprechungen, nach Reifungsstufen, nach Verdichtung und wird durch Erfahrungen verwandelt, so lange, bis es am Ende des Lebens voll und reif ist, um sich im Sterben langsam wieder abzulösen und beim letzten Atemzug wieder in der Göttlichkeit, in die Ursprungsquelle des Seins
zurückzukehren.“
(Auszug aus Sabine Mehne, Meine Einstellung zu Tod und Sterben, in: J. Nicolay, Hg, Ein Gehen ins Licht, Nahtoderfahrungen. Butzon & Bercker, Kevelaer 2017, 145-148)