Nahtoderfahrungen und Ihre Deutung - 14 Thesen

Im Oktober 2010 fand an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Stuttgart Hohenheim die Tagung "Das Fenster zum Himmel war offen - Nahtoderfahrungen und ihre Deutung" statt. Neben einem öffentlichen Vortragsteil erfolgte eine Diskussion der vielfältigen natur- und geisteswissenschaftlichen Aspekte im Rahmen des "Forum Grenzfragen". Mitveranstalter der Tagung war das Netzwerk Nahtoderfahrung. Aus diesem Anlass verfasste Alois Serwaty, Vorsitzender des N.NTE e.V., vierzehn Thesen, die die bisherigen Erkenntnisse sichten und zusammenfassen.

 

Nahtoderfahrung

14 Thesen

  1. Nahtoderfahrungenim engeren Sinne sind keine subjektiven Projektionen und ekstatischen Erregungszustände, sondern können als tiefe Sinnerfahrungen verstanden werden, in denen Menschen sich im Bezug zu einer anderen Wirklichkeit erleben. Physische oder psychologische Todesnähe können Auslösefaktoren sein, sind jedoch keine Voraussetzung.
     
  2. Viele Menschen werden existentiell von diesen Erfahrungen berührt. Nahtoderfahrungen sind Umbrüche und Aufbrüche, die neugierig machen, die in jeder Beziehung herausfordern und die Sehnsucht nach neuem Anfang, nach Veränderung und Transformation auslösen können.Nahtoderfahrungen zeichnen sich dadurch aus, dass der Nahtoderfahrene die Freiheit hat, ihnen einen Wert zu verleihen, der über jede rationale Analyse hinausreicht
     
  3. Nahtoderlebnisse und vergleichbare Erfahrungen sind Erfahrungen noch im Leben und Impulse für das Leben. Aber es gibt keine berichtbaren Erfahrungen, die näher an der Todesschwelle sein können als diese. Wer von der eigenen Erfahrung ergriffen und überwältigt wurde, darf sie als „Fußspuren“ einer anderen, einer metaphysischen oder transzendenten Wirklichkeit, als „Erinnerungsspuren“ an die „eigentliche Herkunft“ und Bestimmung des Menschen deuten
     
  4. Nahtoderfahrungen sind kein „Beweis“ für ein Leben nach dem Tod. Aber sie dürfen als ein Hoffnungszeichen für ein postmortales Sein verstanden werden. Prozesstechnisch gesprochen: in einem Indizienprozess hätte die These der postmortalen Existenz des Ich gute Chancen zu bestehen
     
  5. Nahtoderfahrungen eröffnen vielfältige Perspektivenwechsel: sowohl individuell- persönlich, als auch hinsichtlich unseres Welt- und Menschenbildes,  unseres Geistes- und Gottesbildes.
     
  6. Über dreißig Jahre Forschung und eine lange Reihe wissenschaftlicher Versuche der Erklärung und Deutung dieser Phänomene haben bisher keine Klärung herbeiführen können. Man ist noch nicht zu Ergebnissen gelangt, die jenseits aller Diskussionen feststünden und in die Lehrbücher eingehen könnten. Erstaunlich ist die Gegensätzlichkeit der Erklärungen und Deutungen, die wir vorfinden
     
  7. Der Nachweis hirnphysiologischer Prozesse bei Außerkörper- und Nahtoderfahrungen, soweit er denn zu führen ist, betrifft nur die begleitenden neuronalen Vorgänge. Das Wesen und die Ursache der Erfahrung selbst sind damit nicht erfasst
     
  8. Nahtoderfahrungen enthalten Bilder, Symbole, „Sinngeschichten“. Die darin erscheinenden Symbolwelten einer anderen Realität sind in sich äußerst spannungsreich. Damit ist aber nicht nur ein vages Hinweisen gemeint, sondern diese Symbolwelten lassen die andere Wirklichkeit in ihrem Wesenskern, in ihrer Aufgabe, der Gestalt, in ihrer Qualität auch wirksam werden
     
  9. Der Wert und die Stärke dieser Erfahrungen liegt nicht so sehr in ihrem objektiven Erkenntnisgewinn, sondern in ihrer inneren Überzeugungskraft, in ihrer „subjektiv gesicherten Erfahrungsgewissheit“ (Werner Zurfluh). Diese Gewissheit ist so stark, dass Nahtoderfahrene im Zweifelsfall bereit sind, einer Wissenschaft keinen Glauben zu schenken, die nicht in der Lage ist, diese Erfahrungen für sie befriedigend zu erklären
     
  10. Nahtoderfahrungen weisen in ihrem Kerngehalt eine Klarheit des Denkens und Fühlens, eine Sinnhaftigkeit und Zielgerichtetheit auf, die in ihrer Komplexität nicht zu Krankhaftigkeit, zu Sinnestäuschungen oder Ähnlichem passen (Christian von Kamp). Ihre in der Regel positive Transformationskraft widerspricht ebenso einer psychopathologischen Einordnung.
     
  11. Nachtoderfahrungen sind indbesondere in der Deutung nicht völlig "trugfrei". Irritierend und die Erklärung und Deutung erschwerend  sind das komplexe Gefüge unterschiedlicher Phänomene, die vielfältigen Vermischungen, Übergänge und Grauzonen zwischen den physiologischen, (para-)psychologischen, symbolischen und transzendenten ElementenGerade in dieser inneren Komplexität und Deutungsoffenheit liegt Ihre Faszinationskraft begründet. 
     
  12. Die Integration dieser Erfahrung in das eigene Leben ist die „wesentliche Leistung“ und die eigentliche Herausforderung für den Nahtoderfahrenen. Für diesen Prozess sind drei äußere Bedingungen förderlich: die Anerkennung dieser Erfahrung als Realität des Erlebens, die Einsicht in die Begrenztheit unserer Erklärungs- und Deutungsmöglichkeiten und der Verzicht auf jegliche Form der Instrumentalisierung dieser Erfahrung
     
  13. Erfahrungen in Todesnähe gehören zu den „bewegendsten religiösen Erfahrungen der Gegenwart“ (Wennemar Schweer). Sie können eine mystische Qualität erreichen. Ihr Kerngehalt steht nicht im Widerspruch zum christlichen Glauben, sondern kommt diesem sehr nahe: die Urerfahrung der Liebe als befreiende Wahrheit und wahre Freiheit und ein Urvertrauen in ein Angenommensein
     
  14. „Die Erfahrungen sind wahr und wichtig, wenn sie das unwillkürliche Anwachsen der Liebe bewirken.“ (Carl Albrecht). Dies ist der eigentliche Maßstab, an denen wir Nahtoderfahrungen messen sollten - und das eigentlich „Spektakuläre“ dieser Erfahrungen.

©Alois SerwatyBearbeitungsstand: 19.01.12, 14.00