Eckart Wiesenhütter
Blick nach drüben. Selbsterfahrungen im Sterben.
GTBSiebenstern, Gütersloh 1976
Das Buch ist gelegentlich noch antiquarisch (z.B. im Internet unter “Abebooks”) erhältlich.
Amazon: Blick nach drüben. Selbsterfahrungen im Sterben.
Mediziner sind- vielleicht neben den Theologen – diejenige Berufsgruppe, die Nahtoderfahrungen am skeptischsten gegenübersteht. Andererseits ist es natürlich kein Zufall, dass es neben anderen gerade Ärzte waren, die Nahtoderfahrungen „entdeckt“ und wissenschaftlich erforscht haben. Ich möchte nur die bekanntesten erwähnen: Elisabeth Kübler-Ross, die Kardiologen Michael Sabom und Pim van Lommel, Melvin Morse, ein Kinderarzt, und Psychiater wie Bruce Greyson, Peter Fenwick und Michael Schröter-Kuhnhard. (Moody selbst war zum Zeitpunkt, als er sein Buch verfasste, Doktor der Philosoph. Er studierte später noch Medizin).
In Vergessenheit geraten ist der Beitrag von Eckart Wiesenhütter, der seit 1965 Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Tübingen, von 1967 – 1971 leitender Chefarzt der Bodelschwinghschen Anstalt Bethel und nach 1975 Professor für Klinische Psychologie in Salzburg war.
Sein kleines Buch Blick nach drüben. Selbsterfahrungen im Sterben ist es wert (wieder)entdeckt zu werden. Es erschien 1 Jahr vor Moodys Leben nach dem Tod und ist daher weder von Moodys noch von Elisabeth Kübler-Ross’ Aussagen zu NTE-Phänomenen beeinflusst. Im Nachwort zur 3. Auflage wird darauf hingewiesen, dass das Buch nach seinem ersten Erscheinen einen starken Widerhall fand. Fernseh- und Rundfunkdiskussionen folgten. Die Ergebnisse dieser Diskussion regten J.C. Hampe zur Verfassung einer eigenen Schrift Sterben ist doch ganz anders an, so dass beide Bücher zusammen parallel zu der Entwicklung in den USA einen eigenständigen deutschen Beitrag zur Entdeckung und Diskussion von NTE darstellen.
Wiesenhütter erzählt, dass er als Arzt im Zweiten Weltkrieg an der Operation eines schwer verwundeten Soldaten beteiligt war. Der Soldat machte später den Ärzten Vorwürfe, dass sie ihn wieder ins Leben zurückholten. „Es war, als sei ihm das Paradies vorenthalten worden – so drückte er sich etwa aus.“ Dieses Erlebnis war für Wiesenhütter der Anstoß, ähnliche Berichte zu sammeln. Später hatte er selber die Gelegenheit, „den Sog der anderen Seite“ zu spüren, als er einen Lungeninfarkt erlitt. Es erging ihm ähnlich wie dem Soldaten: „Als ich ...wieder erwachte, war deutlich ein Sträuben in mir, in das qualvolle Dasein zurückkehren zu sollen. Ich wollte ‚wieder’ hinüber...“
Sein Buch zeugt von einem Gespür für die mystische Seite der Nahtoderlebnisse. An die Stelle von Todesangst tritt so etwas wie eine Todessehnsucht, die allerdings „nichts mit einer Depression oder gar mit Selbstmordideen zu tun“ hat. Sie ist – wie er in Anlehnung an den evangelischen Theologen Paul Tillich formuliert - nichts anderes als „der Drang zur Wiedervereinigung des Getrennten“. Das Leben erscheint ihm aus dieser Sicht als „ein geliehenes Gut“. „Wie jede Leihgabe kann es in jedem Augenblick vom Besitzer zurück- und heimgeholt werden.“
Wiesenhütter reflektiert, was solche Erfahrungen für das Verständnis von Tod und Sterben bedeuten. Denn „die meisten von uns verdrängen heute Krankheit, Altern und Tod als etwas ausschließlich Negatives, als das Destruktive schlechthin.“ Seine Nahtoderfahrung hat ihm gezeigt, dass der Tod wie die Geburt nur eine Transformation ist. Er befreit den Menschen aus seiner Ichbefangenheit, „in welcher er sich gar nicht vorstellen kann, wie das Aufgehen der Individualität in das Höhere, ‚geheimnisvoll Umfassende’ aussieht“.
Gegenüber einer Medizin, die Ärzte schon mit dem Studium zu Gegnern von Krankheit und Sterben erzieht, vertritt er das Recht der Menschen, nicht nur zu leben, sondern auch zu sterben.
Von Nahtoderfahrenen hört man oft, dass sie sich in der Sterbebegleitung engagieren. Sie berichten, dass sie Sterbenden ihren Weg erleichtern können, wenn sie sie an ihren Erfahrungen teilhaben lassen. Wiesenhütter teilt im Nachwort zur dritten Auflage eine ähnliche Beobachtung mit. Ihm wurde mehrfach, schreibt er, berichtet, dass Sterbende, die sich krampfhaft ans Leben klammerten, „nach dem Lesen bzw. Vorgelesenbekommen dieser Schrift ...plötzlich von der qualvollen Verklammerung lassen und friedlich einschlafen“ konnten. Joachim Nicolay