Angstfrei sterben – hoffnungsvoll weitergehen
Herausgegeben von Joachim Nicolay und Wilfried Kuhn
>>> Crotona Verlag 2022 <<<
Sind Nahtod-Erfahrungen und vergleichbare Phänomene in Todesnähe bloße Halluzinationen, oder gewähren sie erste Einblicke in die Welt, die uns nach dem Tod erwartet? Unsere Antwort auf diese Frage hat erhebliche Auswirkungen auf unseren Umgang mit Tod und Sterben. In diesem Band des Netzwerks Nahtoderfahrung geht es darum, derartige Phänomene fruchtbar zu machen für die Begleitung Sterbender und ihrer Angehörigen. Dabei kommen neben Nahtod-Erfahrungen auch andere Erlebnisse in Todesnähe in Blick.
Der Psychologe und Theologe Joachim Nicolay stellt die „Sterbeerlebnisse“ vor, die in Deutschland Mitte der 70er-Jahre veröffentlicht wurden – nahezu zeitgleich mit Moodys Augenöffner „Leben nach dem Tod“. Wilfried Kuhn, Neurologe und Psychiater, gibt einen Überblick über weitere Erfahrungen:
Sterbebettvisionen: Sterbende schauen verstorbene Angehörige – von deren Tod sie manchmal erst bei dieser Gelegenheit erfahren („Peak-in-Darien-Phänomen“).
Visionen, in denen Sterbende oder Verstorbene nahestehende Personen über ihren Tod informieren.
Terminale Geistesklarheit: Demente zeigen kurz vor ihrem Tod noch einmal kurz eine geistige Klarheit, die hirnphysiologisch eigentlich nicht möglich scheint.
Shared Death Experiences: gemeinsam erlebte Visionen Sterbender und Nahestehender am Übergang in eine Dimension jenseits des Todes.
Nicolay untersucht den spirituellen Gehalt von Nah- und Nachtodkontakten. Sterbende erscheinen oft, um noch etwas zu regeln, beispielsweise die Versorgung ihrer Kinder, oder um sich zu versöhnen. Verstorbene signalisieren ihren Hinterbliebenen: Ich lebe weiter, es geht mir gut, wir sehen uns wieder. Allerdings kommt es auch vor, dass Verstorbene unmittelbar nach ihrem Tod noch rat- und hilflos wirken. Jedoch überwiegen die Begegnungen, die den Hinterbliebenen Mut machen, ihnen die Angst vor dem Tod nehmen und ihnen helfen, den Tod des geliebten Menschen zu akzeptieren. Oft strahlt der oder die Verstorbene eine unendliche Liebe aus, wie sie sie in ihrem Leben nie vermittelt hat.
Nicolay hat viele Berichte über Nahtod- und verwandte Erfahrungen ausgewertet und dabei eine große Übereinstimmung in ihrem spirituellen Gehalt festgestellt. Beispielsweise werden sie kulturübergreifend als Rückkehr in die wahre Heimat empfunden. Auf der Anschauungsebene jedoch gibt es Unterschiede. Nicolay plädiert deshalb dafür, Nahtod-Erfahrungen eher nicht als objektive Tatsachen aufzufassen, sehr wohl aber als Vorbereitung auf die kommende Dimension. Eine Vorbereitung jedoch, die dem Verständnishorizont der erlebenden Person angepasst ist.
Aus der Sterbe- und Trauerbegleitung stammen die Beiträge dreier Autorinnen:
- Johanna Nientiedt, Palliativkrankenschwester und Hospiz-Koordinatorin
- Sabine Rachl, Lehrerin, Musiktherapeutin und Begleiterin von Kindern und ihren Familien im Kinderhospiz
- Dorothea Stockmar, Malerin, Autorin, Trauer- und Sterbebegleiterin
Nientiedt wurde von Hinterbliebenen immer wieder berichtet, dass ihre Verstorbene ihnen erschienen seien. Sie hat selbst derartige Erfahrungen gemacht und schildert, wie spirituelle Erlebnisse in Todesnähe Menschen verwandeln und trösten können.
Rachl bietet einen entwicklungspsychologischen Überblick darüber, in welchem Alter Kinder welche Vorstellungen vom Tod entwickeln. Vor diesem Hintergrund erzählt sie, wie sterbende Kinder und Jugendliche in kurzer Zeit seelische Entwicklungen durchlaufen, für die andere Jahrzehnte brauchen. Und sie gibt Hinweise, wie Eltern ihren sterbenden Kindern den Übergang erleichtern können. Darüber hinaus betrachtet sie die Bedürfnisse der Eltern, der Großeltern und der – sich oftmals zurückgesetzt fühlenden – Geschwister schwerstkranker Kinder. Sie ermutigt Verwandte und Freunde betroffener Familien, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Tod und Sterben sind Teil unseres Menschseins, wir alle können sehr wohl damit umgehen, wenn wir auf unsere Intuition hören.
Stockmars jüngstes Kind ist 2008 mit 17 Jahren tödlich verunglückt. In ihren Bildern und Texten versucht sie, mit dieser Erfahrung umzugehen. Sie schildert, wie sich im Laufe der Zeit ihre Haltung verändert hat und welche Rolle dabei Erscheinungen ihres verstorbenen Sohnes gespielt haben. Ihre Ölgemälde sind auch in den schwarzweißen Reproduktionen noch beeindruckend. Etliche davon finden sich auch in Farbe auf ihrer Website stockmar-kunst.de.
Wie lässt sich die Praxis der Hospizarbeit verbinden mit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Tod und Sterben? Der Historiker und Archäologe Enno Edzard Popkes hat dafür die Kieler Akademie für Thanatologie mitgegründet. Die Thanatologie erforscht interdisziplinär alle Phänomene, die mit Sterben und Tod in Verbindung stehen. Dazu gehören auch spirituelle Erfahrungen am Lebensende. Popkes sieht hier wichtige Impulse für Seelsorge, Psychotherapie, Spiritual Care und Trauerbegleitung.
Wie verhalten sich Nahtod-Erfahrungen zum Transzendenz-Horizont der christlichen Kirchen? Darauf geht der katholische Theologe, Philosoph und Psychologe Hans Goller ausführlich ein. Dabei führt er durch eine erstaunliche Vielfalt unterschiedlichster christlicher Vorstellungen über die Auferstehung und das Weiterleben nach dem Tod.
Die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Erklärungsansätzen für Nahtod-Erfahrungen steht zwar nicht im Mittelpunkt dieses Buchs, findet aber durchaus statt. Nicolay
zeigt, dass physiologische Prozesse zwar an der Entstehung von Transzendenz-Erfahrungen beteiligt sein können. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die Erfahrungen hirnphysiologisch vollständig erklären ließen. Das ist beispielsweise nicht möglich für die Übermittlung persönlich bedeutsamer Botschaften, oder für die paranormale Übermittlung der Todesnachricht auch Monate nach dem Sterben. Rätselhaft sind auch die Beobachtungen, die Nahtoderfahrene außerhalb ihres Körpers von ihrer eigenen OP machen. Schon oft wurden sie mit den entsprechenden Behandlungsprotokollen verglichen. Dabei wurde ein hoher Übereinstimmungsgrad bis in die Details hinein festgestellt.
Das Buch schließt mit einem Beitrag des 2015 verstorbenen Mathematikers und Physikers Günter Ewald. Vor dem Hintergrund der Quantenphysik stellt Ewald dar, warum auch aus Sicht eines Naturwissenschaftlers die Hoffnung auf ein Weiterleben nach dem Tod keineswegs widerlegt ist.
So ist ein vielstimmiges Buch entstanden, mit Beiträgen aus den unterschiedlichen Perspektiven von Wissenschaftlern, Trauerbegleiterinnen und Betroffenen. Zahlreiche Literaturbelege ermöglichen die weitere Vertiefung. Wer sich seriös darüber informieren möchte, wie Nahtod- und andere Transzendenzerfahrungen in der Begleitung Sterbender und Hinterbliebener eine heilsame Wirkung entfalten können, ist hier richtig. (Gregor Bauer)