Dr. Wennemar Schweer
Mit dem Satz „Alles wackelt“ beschrieb der Theologe Ernst Troeltsch 1886 die theologische Situation seiner Zeit. Die damit angezeigte Krise ist im Lauf der folgenden Zeit nicht geringer geworden, sondern hat eher noch an Schärfe zugenommen, denn dominant ist gegenwärtig ein naturalistisch-materialistisches Menschenbild. Nach Thomas Metzinger sind z.B. „alle unsere geistigen Fähigkeiten untrennbar an funktionsfähige Gehirne geknüpft. Das macht … ein Fortbestehen von Denken und Fühlen nach dem Tod des Organismus extrem unwahrscheinlich.“
Angesichts dieser Situation ist es von größter Bedeutung, dass NTE ermöglichen, das gängige naturalistische Menschenbild kritisch zu hinterfragen. Anlass dazu bieten die vielfach berichteten glaubwürdigen Außerkörperlichkeitserfahrungen. Diese Erfahrungen geben Indizien dafür an die Hand, dass das Geistig-Seelische am Menschen nicht einfach nur ein Produkt unseres Gehirnes ist, sondern in einer anderen – höheren - Dimension verortet sein muss. Damit eröffnen sich Perspektiven für ein spirituelles Menschenbild, das es erlaubt, eine Fortexistenz des Menschen jenseits der irdischen Existenz anzunehmen.
Was bei Außerkörperlichkeitserfahrungen nur für wenige Momente geschieht – die Trennung einer geistig-seelischen Entität vom Körper – dürfte im Tod endgültig eintreten. Dieser Sachverhalt kann theologisch so verstanden werden, dass Gottes Schöpferwille für jeden Menschen eine Zukunft jenseits des Todes vorgesehen hat. Dazu passen verschiedene Texte des Neuen Testamentes, in denen angenommen wird, dass der Mensch durch den Tod in eine andere Existenzform eintritt. In diesem Sinne sagt Jesus zu dem Schächer am Kreuz: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein. Oder Paulus schreibt: Ich hätte Lust abzuscheiden und bei dem Herrn zu sein. Vorherrschend ist im Neuen Testament freilich eine andere Vorstellung: Bei dem baldigen Ende dieser Welt werden die Toten auferstehen und in verwandelter Gestalt auf dieser Erde in Gottes Reich mit Jesus leben. Diese von apokalyptischen Denkmustern abgeleitete Vorstellung ist ohnehin dem heutigen Menschen nur schwer zu vermitteln. An ihre Stelle würde die durch NTE unterstützte Annahme einer „Auferstehung im Tod“ treten, ein im Tod sich vollziehender Übergang in eine höhere Wirklichkeitsebene. In Frage gestellt würde damit freilich auch die Auffassung von Paulus, dass Jesus „der Erstling der Entschlafenen“ war, d. h. als erster auferstanden ist und durch seine Auferstehung erst ermöglicht hat, dass auch andere Menschen eine Hoffnung über den Tod hinaus haben dürfen. Daran wird deutlich, dass die große Hilfe, die theologisches Denken durch NTE erfahren kann, nicht umsonst zu haben ist, sondern verbunden sein muss mit der Bereitschaft, Korrekturen an bisherigen theologischen Auffassungen vorzunehmen.
Über die Außerkörperlichkeitserfahrungen hinaus gibt es zahlreiche Berührungspunkte zwischen NTE und christlichen Glaubensvorstellungen. Manche Menschen erleben während einer NTE so etwas wie eine Lebensrückschau, und dabei wird ihr Leben bewertet. Maßstab dieser Bewertung ist das Gebot der Liebe, das auch von Jesus als das höchste aller Gebote bezeichnet worden ist. Andere Betroffene berichten bei ihrem Transzendenzerlebnis von einer Begegnung mit Verstorbenen, die zu der christlichen Überzeugung passt, dass der Tod das Leben nicht beendet, sondern nur transformiert. Zu den tiefsten Erfahrungen bei NTE gehört die Begegnung mit einem hellen Licht, das heller ist als jedes irdische Licht und grenzenlose Liebe ausstrahlt. Bis in die Wortwahl hinein entsprechen solche Beschreibungen dem, wie christliche Mystiker ihr Erleben in Worte gefasst haben.
Die Entsprechungen und Berührungspunkte zwischen NTE und christlichen Glaubensüberzeugungen schließen nicht aus, dass theologisches Denken auch eine kritische Distanz zu bestimmten Inhalten bei NTE einnehmen muss. Dafür zwei Beispiele:
Theologisches Denken geht von einer bleibenden Unterscheidung (nicht Trennung) zwischen Gott und Mensch, zwischen Schöpfer und Geschöpf aus. Von daher wird man aus theologischer Sicht Bedenken haben gegenüber manchen NTE, in denen die Betreffenden ihr Erleben so beschreiben, als würde die Grenze zwischen Gott und Mensch verwischt. Auch die Seele des Menschen ist nach theologischer Überzeugung Teil der göttlichen Schöpfung und nicht so etwas wie ein göttlicher Funke, der danach strebt, mit dem göttlichen Licht eins zu werden. Ein zweiter Vorbehalt könnte mit dem Wort „Noch nicht“ bezeichnet werden. Gemeint ist damit, dass die Vollendung des Menschen bei Gott immer noch aussteht. Darum haben die Erfahrungen in Todesnähe stets den Charakter des noch Vorläufigen, Bruchstückhaften. Man befindet sich gleichsam in einer Zwischenstation, in der man etwas von der Endstation ahnen, aber nicht erkennen kann. Angesichts von manchmal überwältigenden Erfahrungen in Todesnähe ruft theologisches Denken eher zu einer Bescheidenheit auf, die um die Grenzen des Erfahrbaren weiß und sich nur mit Bildern und Symbolen sowie paradoxen Formulierungen dem Unfassbaren zu nähern traut. Es wird auch zur Vorsicht gegenüber spirituellen Systembildungen geraten, denn Gott ist immer noch größer als alles, was wir von ihm erfahren können. Diese Transzendenz über alles menschliche Erfahren und Begreifen hinaus sollte ernst genommen werden.
Angesichts der von Troeltsch beschriebenen Krise überrascht es, dass manche Theologen die von NTE angebotenen Hilfen mit der überheblichen Bemerkung ablehnen, der Glaube habe solche „Krücken“ nicht nötig. Man ist dann sogar geneigt, die von manchen Forschern vorgenommene reduktionistische Interpretation der NTE (alles ist nur auf Fehlfunktionen des Gehirns zurück zu führen) zu übernehmen und merkt nicht, dass dieser Interpretation auch viele Glaubenserfahrungen, z.B. die ganze christliche Mystik, zum Opfer fallen würden. Diese Einstellung überrascht auch angesichts der Tatsache, dass das, was manchen Menschen bei NTE zuteil wird, zu den bewegendsten religiösen Erfahrungen der Gegenwart gehört. Vielleicht hat man auch Angst, als „unwissenschaftlich“ zu gelten und macht sich nicht klar, dass ein „wissenschaftliches“ Erklärungsmodell für NTE weder verfügbar noch in Sicht ist.
Es bleibt also dabei, dass das Gespräch zwischen NTE und Theologie für beide Seiten förderlich und anregend sein kann. Eine gemeinsame Basis könnte im Eintreten für ein spirituelles Bild vom Menschen mit einer Ethik der Nächstenliebe gefunden werden. Dieses weiter führende Gespräch befindet sich freilich gegenwärtig noch in den Anfängen.
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