Wilfried Kuhn/ Joachim Nicolay (Hrsg.)
Crotona Verlag Amerang 2023, 17,95 Euro
Nahtoderfahrungen verändern die Lebenseinstellung, und das nicht nur bei den Menschen, die diese Erfahrungen machen: Viele, die auf sich wirken lassen, was Nahtod-Erfahrene zu berichten haben, sind ebenfalls verwandelt worden. Könnten also Nahtoderfahrungen zum Ausgangspunkt werden für eine „neue Spezies Mensch“, wie Kenneth Ring hofft, die das Leben auf unserem Planeten verändert? Der Theologe und Psychologe Joachim Nicolay, Mit-Herausgeber und Autor dieses Buchs, hält solche Erwartungen zwar für überzogen. Sehr wohl aber schimmert in den Beiträgen immer wieder Hoffnung durch, dass wir es besser machen können, wenn wir, inspiriert von Nahtod-Berichten, uns darauf besinnen, wer wir sind und warum wir auf der Welt sind.
Der Schlüsselbegriff, der sich dazu durch den ersten Teil zieht, ist „Verbundenheit“.
Selbstmitleid überwinden, Dankbarkeit lernen
Michèle Bögli-Mastria, spiritueller Coch und Vorstandsmitglied von SWISS IANDS, schildert, wie sie nach ihrer Nahtoderfahrung nur mühsam zurück ins Leben fand. Der Gegensatz zwischen der allumfassenden Liebe in der jenseitigen Welt und dem begrenzten Dasein hier führte bei ihr zu einem quälenden Gefühl des Getrennt-Seins. Sie erkannte, dass sie in Selbstmitleid gefangen war, und überwand diesen Zustand, indem sie eine Haltung der Dankbarkeit einübte. Schmerz lernte sie zu bejahen als Teil eines Lernprozesses, bei dem wir „stets in die richtigen Situationen und zu den richtigen Personen geführt werden“.
Vergebung lässt sich nicht erzwingen
Rückkehr zur Einheit ist ein Kernanliegen von Sabine Amrhein, ganzheitliche Begleiterin, Coach und Mentorin mit christlichem Hintergrund. In ihrem Beitrag setzt sie sich unter anderem mit Vergebung und Versöhnung auseinander. Sie mahnt, dass mit Vergebung nicht gemeint ist, Unrecht zu relativieren oder zu legitimieren. Und Vergebung lässt sich nicht erzwingen: Die Seele muss dafür bereit sein. Ja, Amrhein warnt sogar davor, zu früh zu vergeben: Zuvor gilt es, an die Wurzel des Leids zu gehen. Und auch nach der Vergebung kann es notwendig sein, grenzüberschreitende Menschen auf Distanz zu halten.
Gebet als gelebte Verbundenheit
Ein Weg, Verbundenheit zu leben, ist das Gebet. Joachim Nicolay beschreibt verschiedene Stufen des Gebets: Mit dem Bittgebet verbinden sich oft Erwartungen, die leicht enttäuscht werden können. Dagegen hilft das Vertrauen, „dass Gott das Leben auch im Leid und durch das Leid hindurch lenkt“. Die zweite Stufe ist das colloquial prayer: das Gebet als vertrautes Sprechen mit Gott. Es kann hinführen zu einer noch tieferen Verbundenheit mit Gott im hinhörenden Gebet, in dem wir uns von Gott leiten lassen. Doch machen wir uns nicht etwas vor, wenn wir glauben, dass es tatsächlich Gott sei, der uns da leitet, und nicht vielmehr eine innerseelische Instanz? Diese Frage führt zum Gebet als Transzendenzerfahrung. Auch denen, die nicht an Gott glauben, steht das Gebet als Experiment offen. Was das Gebet im Leben eines Menschen bedeuten kann, wird in drei Gesprächs-Ausschnitten deutlich, die Nicolay seinem Beitrag anfügt.
Warum wir hier sind
Nahtoderfahrungen geben Aufschluss über den Sinn unseres Daseins: Davon ist der Sterbeforscher Bernhard Jacoby nach zahlreichen Begegnungen mit Nahtod-Erfahrenen überzeugt. Wir Menschen, so Jacoby, durchlaufen Inkarnationen, zu denen wir uns in unserer jenseitigen Heimat entschieden haben, um bestimmte Entwicklungsprozesse zu ermöglichen. Während unseres Erdenlebens vergessen wir den Seelenplan, der uns hierher gebracht hat. In der Lebensrückschau am Ende unseres Lebens erlangen wir die Selbsterkenntnis wieder, und es fällt uns wie Schuppen von den Augen: Was zählt, ist die Liebe, die wir gegeben oder zurückgehalten haben.
Gottesvorstellungen im Licht der Nahtoderfahrungen
Im zweiten Teil des Buches geht es um die Frage, welche Gottesvorstellungen mit der Botschaft der Nahtoderfahrungen vereinbar sind. Der Theologe und Physiker Andreas Neyer stellt das Konzept des Panentheismus vor. Anders als in traditionell theistischen Vorstellungen werden Gott und Welt hier nicht als Gegensätze gedacht. Vielmehr ist alles in Gott. Damit ist auch die Dualität in der Beziehung Gott – Mensch aufgehoben: Der Mensch ist in Gott, wie auch die Mystiker erleben dürfen. Und doch behält im Panentheismus die Beziehung zwischen Gott und Mensch den Charakter einer persönlichen Beziehung. Denn anders als im Pantheismus geht Gott nicht völlig in der Welt auf, sondern bleibt liebendes Gegenüber.
Wenn Gott nicht gegen seine eigenen Naturgesetze verstößt und die Freiheit des Menschen achtet: Wie kann er dann allmächtig sein? Im Panentheismus ist er das tatsächlich nicht uneingeschränkt: Allmacht steht nur für einen der beiden Pole Gottes, den „absoluten“. Der andere, der „relative“ Pol, ermöglicht Veränderung, Entwicklung und Liebe.
Wie sich dieses Konzept zum klassischen christlichen Gottesbild verhält, scheint mir nicht leicht zu beantworten. Zumal Gott im Christentum ein unergründliches Mysterium ist, von dem wir uns kein Bild machen sollen. Gut möglich, dass Panentheismus und Christentum besser miteinander vereinbar sind, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Die Grenzen des Naturalismus überwinden
Der philosophische Berater und Psychotherapeut Eckart Ruschmann stellt Nahtoderfahrungen in einen größeren Zusammenhang neben weitere Transformations-Erfahrungen und zeigt: Wer sich ernsthaft mit diesen spirituellen Erfahrungen auseinandersetzen und ihre Botschaft ernst nehmen will, muss den Rahmen des naturalistischen Weltbilds verlassen. Auch wenn dieses Weltbild heute noch unter Wissenschaftlern vorherrscht, gibt es doch bereits Ansätze zu seiner Überwindung. Ruschmann stellt uns mehrere solcher Ansätze vor.
Jesus: Ethik des Herzens
Das Buch schließt mit einem Beitrag von Joachim Nicolay über die Botschaft Jesu aus der Sicht der Nahtoderfahrungen. Nicolay lässt alle dogmatischen Debatten beiseite und konzentriert sich stattdessen auf Jesu „Ethik des Herzens“.
Im Zentrum der Botschaft Jesu steht die Liebe. Dabei geht es ihm um weit mehr als um Wohltätigkeit: Sicherlich, Jesus legt großen Wert auf tätige Nächstenliebe für Notleidende. Aber die Liebe hört nicht da auf, wo die Not endet. Sie verbindet uns, egal in welcher Lebenslage wir uns gerade befinden. Liebe verwirklicht sich in der Begegnung mit dem Menschen, mit dem wir gerade zusammen sind. Ihm sich voll präsent zuzuwenden, statt aneinander vorbei zu leben: Darauf kommt es an. Doch die Liebe reicht auch über das eigene Umfeld hinaus. Sie gilt allen, auch den Menschen, die uns nicht sympathisch sind. Sie kennt keine Grenzen, auch nicht die scheinbar unüberwindlichen Grenzen der Feindschaft.
Diese Ethik Jesu entfaltet Nicolay nicht nur anhand der Evangelien: Er bringt auch viele praktische Beispiele aus dem heutigen Alltag und stellt Bezüge her zu Psychologie und Meditation. Dabei wurde mir einmal mehr bewusst: Keine Persönlichkeit aus Geschichte und Gegenwart führt mich so direkt hin zu dem, worauf es im Leben ankommt, wie Jesus.
Indem Nicolay auf die Universalität der Liebe Jesu hinweist, weckt er in mir noch eine andere Hoffnung: Das Christentum ist ja auf der ganzen Welt verbreitet, zudem reicht die Strahlkraft der Botschaft Jesu über das Christentum hinaus. Könnte es sein, dass in der Universalität der Liebe Jesu ein Keim der Hoffnung liegt, die wir gerade jetzt brauchen? Stehen wir Menschen doch angesichts der Klima- und anderer Umweltkrisen vor Herausforderungen, die wir nur lösen können, wenn wir uns über unseren kleinen Wirkungskreis hinaus miteinander verbinden, weltweit.
Gregor Bauer