Die Frage kann zweierlei bedeuten. Zunächst richtet sie sich darauf, ob Menschen in Todesnähe auch bedrohliche Dinge erleben. Im Hintergrund steht aber oft noch eine andere Frage. Sie lautet: Gibt es in Nahtodberichten Hinweise auf negative Verläufe nach dem Tod?
1 Die Schau negativer Bereiche
Ich beginne mit der zweiten Frage. Tatsächlich tauchen im Rahmen positiver Erlebnisse manchmal einzelne, erschreckende Szenen auf, die als Hinweise auf negative Verläufe nach dem Tod verstanden werden. Die Betroffenen erleben also nicht selbst eine bedrohliche Situation. Sie sehen nur Bilder, die auf negative Zustände nach dem Tod hinzudeuten scheinen. Ein Beispiel dafür ist der Bericht von Elaine Winner, die während ihrer (positiven) Nahtoderfahrung auch einen „dunklen, finsteren, tristen Bereich“ wahrnahm. „Man sieht, dass er mit einer Menge verlorener Seelen oder Wesen angefüllt ist, die den gleichen Weg gehen könnten, den ich ging [zum Licht], wenn sie einfach nur hochschauen würden. Ich hatte aber das Gefühl, dass sie alle runter schauten… Es waren Hunderte von ihnen, die alle sehr niedergeschlagen aussahen … Sie wandten sich nicht dem Licht zu, ja sie wussten nicht einmal, dass das Licht existierte.“ Elaine Winner kam es vor, als würden ihr mit diesen Bildern Szenen gezeigt, die sie auf mögliche negative Verläufe nach dem Tod aufmerksam machen sollten. (Charles Flynn, After the Beyond)
Wenn den Menschen negative Szenen gezeigt werden, werden sie nicht als Bestrafung durch Gott verstanden, sondern im Sinne des Gesetzes von Ursache und Wirkung gedeutet. Die Menschen ernten, was sie gesät haben, wie eine nahtoderfahrene Frau schreibt. Sie unterliegen im Jenseits einem Prozess der Läuterung, bevor sie in die Welt des Lichtes gelangen.
George Ritchie wurde in seiner Nahtoderfahrung noch eine andere düstere Ebene gezeigt. Hier sah er körperlose Wesen, die hasserfüllt übereinander herfielen und versuchten, sich zu töten. „Sie konnten nicht töten, obwohl sie den eindeutigen Wunsch dazu hatten, ihre Opfer waren bereits tot.“ Er sah andere körperlose Wesen, die genauso vergeblich versuchten, ihre sexuellen Aggressionen und Perversionen auszuleben. Auch Fanatiker aller Richtungen befanden sich hier. „Hier diskutierten einige Wesen über religiöse oder politische Ansichten, um dann zu versuchen, denjenigen zu töten, der nicht ihrer Meinung war.“ Die Bilder veranschaulichen, dass Menschen, die Hass säen, auch Hass ernten. (Joyce Brown, Heavenly Answers for Earthly Challenges)
2 Negative Nahtoderfahrungen
Im Unterschied zur Schau negativer Bereiche werden in negativen Nahtoderfahrungen die Betroffenen selbst in ein bedrohliches Geschehen verwickelt.
Zu den häufigsten Formen gehören Erfahrungen der Leere. Im Mittelpunkt der Schilderungen steht eine Konfrontation mit Dunkelheit und Leere. Die Leere wird als „Abwesenheit von Liebe und anderen Gefühlen“ erlebt. Den Menschen fällt auf, dass sie keine physischen Schmerzen empfinden, dafür aber einen umso beängstigenderen „emotionalen, psychischen und spirituellen Schmerz“. Manchmal gibt eine Stimme eine Erklärung für das Geschehen. Sie wird einer höheren Macht zugeschrieben: „Ich wusste, es war Gott“. Sie ist nicht drohend, sondern spricht „friedvoll und ruhig“. Die Stimme stellt einen Zusammenhang her zwischen dem Handeln und der Erfahrung der Leere als einer Folge dieses Handelns. (Barbara Rommer, Der verkleidete Segen)
Die Betroffenen verstehen die „Botschaft“ so, dass sie, wenn sie ihr bisheriges Leben fortführen, nach ihrem Tod möglicherweise der Isolation und Leere ausgesetzt sein werden, die sie selbst geschaffen haben. Einem jungen Mann, der nach einer Überdosis Drogen ein entsprechendes Erlebnis hatte, wurde bewusst, dass die ‚Leere‘, die er erfuhr, „das äußerste Resultat seines mit Drogen gefüllten Lebens war, eines ‚Freundeskreises‘, dessen einziges Interesse im Erwerb von Drogen bestand und eines Mangels an Interesse für andere Menschen, die er beraubt hatte, um das Geld zu bekommen, mit dem er die Drogen bezahlen konnte“. (Pamela Kircher, Love is the Link)
Eine weitere Form negativer Nahtoderfahrungen ist die Begegnung mit bösen Wesen. Über ein solches Erlebnis berichtet der frühere Kunstprofessor Howard Storm. Zu Beginn seiner Nahtoderfahrung gelangte er in düstere Sphären. Böse Wesen lockten ihn an einen dunklen Ort, an dem sie über ihn herfielen. Sie amüsierten sich damit, ihn zu quälen. Howard Storm stellt klar, dass es keine „Dämonen” waren, denen er in die Hände fiel, sondern um „in Dunkelheit existierende menschliche Wesen”. Dass er an diesen Ort gelangte, erklärt er sich mit seiner früheren Egozentrik. In seinem bisherigen Leben habe sich alles um ihn selbst gedreht. Er war nicht offen für andere. Er kommt zu der Erkenntnis, dass wir nur dann, wenn unsere Grundeinstellung im Leben von Liebe gekennzeichnet war, uns nach dem Tod zu Gott hingezogen fühlen; denn „Liebe zieht Liebe an“. (Howard Storm, Mein Abstieg in den Tod)
Die negative Phase seines Erlebnisses endete, als er in seiner Not Jesus um Hilfe anflehte. Ein Gebet zu Jesus oder zu Gott führt auch in anderen Berichten über negative Nahtoderfahrungen zur Befreiung aus höchster Bedrängnis.
3 Deutung
Negative Nahtoderfahrungen werden von der Autorin Barbara Rommer als „verkleideter Segen“ bezeichnet. Das ist insofern berechtigt, als auch negative Erlebnisse positive Folgen haben können. Die Betroffenen überdenken ihr bisheriges Leben und versuchen, ihr weiteres Leben sinnvoller und weniger egoistisch zu gestalten. Die Transformation zielt in die gleiche Richtung, in die auch positive Erlebnisse weisen. Andererseits habe ich den Eindruck, dass negative Erlebnisse auch als außerordentlich belastend und lähmend empfunden werden können. Sie können große Angst auslösen. Für Betroffene ist es schwierig, Hilfe zu finden.
Ergänzen möchte ich noch, dass sehr belastende, albtraumhafte Erlebnisse auch im Koma auftreten können. Es handelt sich um sogenannte Oneiroide, Halluzinationen, die manchmal zu Unrecht den negativen Nahtoderfahrungen zugerechnet werden. Ausführlich gehe ich darauf in meinem Beitrag „Zwischen Angst und Geborgenheit – Personales Bewusstsein im Koma“ ein. (Der Beitrag ist enthalten in dem Buch: A. Serwaty, J. Nicolay, Hg., Nahtoderfahrungen und Bewusstseinsforschung, Santiago Verlag 2013)
Die Thematik negativer Nahtoderfahrungen wird auch in dem folgenden Buch angesprochen: Joachim Nicolay (Hg),
Ein Gehen ins Licht - Nahtoderfahrungen, Verlag Butzon & Bercker, Kevelaer 2017