Sind Nahtoderfahrungen kulturell geprägt? Das behauptet zumindest der Soziologe Hubert Knoblauch, der zu dieser Frage eine Studie durchgeführt hat. Er hatte 2000 Personen in ganz Deutschland befragt, ob sie schon einmal ein intensives Erlebnis hatten, bei dem sie glaubten, gerade zu sterben bzw. in der Nähe des Todes zu sein. Aus den Ergebnissen seiner Befragung folgert er, dass Menschen in Ostdeutschland andere Erlebnisse hätten als in Westdeutschland und dass Nahtoderfahrungen überhaupt kulturell geprägt seien. (Hubert Knoblauch, Hans-Georg Soeffner, Hg., Todesnähe) Wenn das wirklich so wäre, würde sich in Nahtoderfahrungen nur der kulturelle und religiöse Hintergrund der Personen spiegeln, die solche Erfahrungen machen. Man würde in ihnen nur das wiederfinden, was heutige Menschen über das Jenseits denken. Über eine jenseitige Welt würden sie nichts aussagen.

Wie kommt Knoblauch zu seinen Aussagen? Man muss sein weit gefasstes Verständnis von Nahtoderfahrung beachten. Der Begriff „Nahtoderfahrung“ ist nämlich zweideutig. Wenn man von „Nahtoderfahrung“ hört, ohne sich intensiver mit dem Phänomen beschäftigt zu haben, denkt man an Erlebnisse, die in Todesnähe auftreten. Demnach wären alle Erlebnisse, die in lebensbedrohlichen Situationen auftreten, Nahtoderfahrungen. Bei diesem unspezifischen Verständnis kommt es auf den Inhalt des Erlebnisses nicht an. Man stößt dann nicht nur auf die „typischen“ Nahtoderfahrungen, sondern auf eine Vielfalt unterschiedlichster Erlebnisse. Eine Frau in Knoblauchs Fallsammlung meinte zum Beispiel, während einer schweren Operation zu sehen, dass die Ärzte sie liegen ließen und „mit ganz vielen bunten Lichtern und Girlanden“ eine Party feierten.

Die Pioniere der Nahtodforschung – Raymond Moody in den USA, Eckart Wiesenhütter und Johann Christoph Hampe in Deutschland– hatten jedoch ein anderes Verständnis. Sie gingen zwar auch davon aus, dass die Erlebnisse in Todesnähe auftreten, aber wichtiger waren ihnen die inhaltlichen Merkmale. Aus ihrer Sicht zeichnen sich Nahtoderfahrungen durch ein besonderes Erlebnismuster aus. Dazu gehören die außerkörperliche Erfahrung, der Tunnel, die Begegnung mit dem Licht und mit Verstorbenen, Aufenthalte in paradiesischen Regionen und Lebensrückblicke. Das Besondere an diesen Merkmalen besteht darin, dass sie auf eine transzendente Wirklichkeit hindeuten. Die Menschen erleben es so, als wären sie auf dem Weg in eine andere, jenseitige Welt.

Die internationale Forschung hat sich von Anfang an den Merkmalen orientiert, die Moody beschrieben hatte. Auf dieser Basis wurden inzwischen in vielen Ländern der Erde Untersuchungen durchgeführt. Sie zeigen, dass Erlebnisse mit den gleichen Merkmalen nationen- und kulturübergreifend berichtet werden. Nahtoderfahrungen, wie Moody sie beschrieben hat, kommen in Ostdeutschland genauso vor wie in Westdeutschland, in den USA ebenso wie in Australien, in China in der gleichen Art wie in Ländern, die dem Islam angehören.

Eine neue Möglichkeit, der Frage nach dem kulturellen Einfluss nachzugehen, bieten die großen Internetplattformen. Jeffrey Long hat über 1000 Berichte, die seiner Plattform NDERF zugeschickt worden waren, auf typische Nahtodelemente untersucht. Er kommt zu dem Schluss: „Nahtoderfahrungen sind im Kern auf der ganzen Welt gleich: Ob in der Nahtoderfahrung eines Hindus in Indien, eines Muslims in Ägypten oder eines Christen in den Vereinigten Staaten – in allen zeigen sich dieselben Kernelemente, darunter außerkörperliche Erfahrungen, Tunnelerlebnisse, Empfindungen tiefen Friedens, Lichtwesen, eine Lebensrückschau, der Unwille, zurückzukehren und eine innere Wandlung nach der Nahtoderfahrung ... Kulturelle Glaubensüberzeugungen haben keinen signifikativen Einfluss auf den Inhalt von Nahtoderfahrungen.“ (Jeffrey Long, Beweise für ein Leben nach dem Tod)

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